von Tilman Rau
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19. Februar 2022
Billy Summers ist ein netter Typ. Einer, den man gerne als Nachbarn hat. Weil er seinen Rasen pflegt und auf diese Weise zum guten Erscheinungsbild der Wohngegend beiträgt. Weil er mit den Nachbarskindern Monopoly spielt. Weil er immer für einen spontanen Grillabend zu haben ist und herzhaft zugreift, wenn jemand selbstgebackene Kekse anbietet. Billy Summers ist nebenbei ein Auftragskiller, und zwar ein ziemlich guter. Doch das braucht niemand zu wissen. Zumindest vorerst. Später ist es egal. Denn der bevorstehende Mord wird sein letzter sein. Mit den zwei Millionen Dollar, die er dabei verdient, kann er sich beruhigt zur Ruhe setzen. Eine neue Identität hat er schon vorbereitet. Billy Summers wird es dann nicht mehr geben. Eigentlich kann nichts schiefgehen. Denn Billy Summers ist nicht nur nett und gut in seinem Job, sondern auch sehr gründlich und akribisch. Aber wie das so ist ‒ und weil ein Roman natürlich danach schreit ‒ geht trotzdem etwas schief. Nicht alles, aber genug, um die Geschichte in eine unerwartete Richtung zu drehen. Mit großer Erzähl- und Detailfreude lässt Stephen King uns in der ersten Hälfte des Romans an Billy Summers’ Leben und der Planung seines letzten Mordes teilhaben. Das liest sich nicht nur sehr unterhaltsam, sondern auch intensiv. Das liegt zum Teil natürlich daran, dass die Planung eines Scharfschützen-Mordes eine interessante Sache ist. Mindestens genauso verantwortlich dafür ist aber die Tatsache, dass die Geschichte zum Gutteil vom Schreiben handelt. Denn als Tarnung haben sich die Mittelsmänner, die Billy Summers den Auftrag verschafft haben, darauf geeinigt, Billy als Schriftsteller auszugeben. Was anfangs als reine Tarnung gedacht war, wird mehr und mehr zu Billys Leidenschaft. Er will schreiben. Allmählich wird dies sogar noch wichtiger als die zwei Millionen Dollar, die man ihm für den Auftragsmord versprochen hat. Stephen King hat in einem Interview einmal gesagt, er kenne sich vor allem mit zwei Dingen aus: mit der Angst und mit dem Schreiben. Das mit der Angst hat er uns ja in unzähligen Romanen hinreichend vorgeführt, die ihn zum anerkannten „Meister des Horrors“ haben werden lassen. Oft genug hat er das Schreiben und die Angst dabei in Verbindung miteinander gebracht, man denke etwa an Shining oder Sie (das unter dem Originaltitel Misery verfilmt wurde). In Billy Summers wird man vergeblich nach den klassischen Horrorelementen suchen. Es gibt nichts Übersinnliches, keine Mörderclowns oder menschenfressende Nebelwolken. Wenn überhaupt, begegnet uns der Horror in seiner banalsten Form, in dem nämlich, was Menschen einander nunmal antun, im Krieg wie auch im normalen Leben. Ums Schreiben geht es dafür umso mehr. Mit lesbarer Freude und Genugtuung beschreibt Stephen King, wie seine Hauptfigur dem Sog dieser Tätigkeit immer weniger widerstehen kann (und will) und wie sich eine Niederschrift plötzlich in ein Buch, in einen Roman verwandelt. Für Billy Summers – das dürfen wir, seine Leser, miterleben – ist das Schreiben eine Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit. Die Ordnung der eigenen Geschichte. Die Rechtfertigung seines Handelns und Mordens. Und damit all das, was Schreiben eben so ist. Dies mitzuverfolgen macht Spaß. Auch wenn der Roman in der zweiten Hälfte ein wenig an Spannung und Intensität verliert. Vielleicht hat es damit zu tun, dass Billy Summers‘ Welt aufgebrochen wird. Der professionelle Killer, der sein Leben mit einer durchstrukturierten Akribie geführt hat, die schon fast autistische Züge annimmt, bekommt plötzlich Besuch. Fortan ist er nicht mehr der konsequente Einzelgänger, sondern eine Hälfte eines Duos. Über die zweite Hälfte sei hier aus Gründen des Spannungserhalts nichts verraten – aber wie gesagt, mit Horror hat all dies nichts zu tun. Ungeachtet des kleinen Spannungsabfalls in der zweiten Hälfte des Buchs habe ich jede Seite dieses Romans genossen. Weil er Spaß macht. Und er macht Spaß, weil Stephen King erzählen kann und so unübersehbar Freude an seinen eigenen Figuren, Themen und Geschichten hat. Und ich muss zugeben, dass es seit langer Zeit das erste Buch von Stephen King war, das ich überhaupt in die Hand genommen habe. Ich hatte mich davor schlicht überlesen an ihm, und damit stehe ich sicherlich nicht alleine da, angesichts seines mittlerweile komplett unüberschaubaren Œuvres. Umso schöner, als dieses Buch für mich persönlich einen Kreis schließt. Ich habe Stephen King mit Billy Summers nämlich wiederentdeckt, wie ich ihn mit Es entdeckt habe – anhand des Buchcovers. Damals, vor mehr als dreieinhalb Jahrzehnten, sah ich dieses monströs dicke und große Buch, das mir den Titel in Schwarz auf Knallrot entgegenschrie, im Schaufenster des Schreibwarenladens meines Heimatortes stehen. Ich musste das Buch einfach haben und lesen … und was folgte, war ein jahrelanger Ritt durch das gesamte Horrorspektrum, das Stephen King bis in die späten 80er, frühen 90er vor seiner Leserschaft ausbreitete. Auch diesmal war es das Cover, das meinen Blick anzog – eine eigentlich dezente Farbexplosion, aus der sich ein Frauengesicht, eine Mörderhand und ein paar Gebäude hervorschälen. Das alles im Glanz von Fotopapier gefasst und mit einem leicht abgesetzten Schriftzug des Romantitels versehen. Mehr hat es nicht gebraucht, um mich zugreifen zu lassen. Stephen King? Uh, lange ist’s her – vielleicht sollte ich mal wieder einen Versuch wagen … Ich habe es nicht bereut. Und wer weiß, vielleicht schaue ich ja mal in einen der vielen Romane rein, die ich in den letzten mindestens zwanzig Jahren verpasst habe.